Köln ist über die Grenzen der Republik hinaus bekannt. Der Dom ist weltberühmt, und die Bezeichnung „Cologne“ für Duftwässerchen ist fest in der englischen Sprache verankert. Vor einem Jahr erregte die Rheinmetropole auch in einem ganz anderen Zusammenhang internationale Aufmerksamkeit. Am 7. Mai 2012 fiel am örtlichen Landgericht ein Urteil, dessen Tragweite sich zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand wirklich bewusst war. Das Gericht entschied im Falle eines 4-jährigen, bei dessen nicht-medizinisch indizierter Beschneidung es zu Komplikationen gekommen war, daß eben diese Operation eine Körperverletzung darstelle. In der Folge kam es zu einer Debatte über die Rechtmäßigkeit von Vorhautamputationen, die nicht der Heilung dienen, sondern religiös oder traditionell motiviert sind. Sie wurde in der Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, sowohl von Verfechtern der Praxis als auch von Kinderschützern und Menschenrechtsgruppen, die zum Teil schon seit Jahrzehnten rund um den Globus dafür eintreten, daß ein derart schwerer Eingriff nicht ohne die informierte Zustimmung des Betroffenen erfolgen darf.
Ein im Eilverfahren durchgepeitschtes Gesetz – §1631d BGB – sollte die Debatte schnellstmöglich abwürgen, indem es Vorhautamputationen an nicht urteils- und einwilligungsfähigen Jungen legalisierte, gleich aus welchem Grunde sie erfolgen. Es wurde schon wenige Monate später – am 12.12.12 – vom Bundestag verabschiedet. Dieses Gesetz stellte die religiösen, traditionellen, moralischen und ästhetischen Wünsche und Vorstellungen der Eltern über die Grundrechte ihrer Söhne auf körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmen, Gleichbehandlung der Geschlechter und nicht zuletzt auch über deren eigene Religionsfreiheit. Es wird von Fachleuten aus Recht und Medizin deshalb als nicht Verfassungskonform angesehen, und löste auch auf internationaler Ebene vielfach Kopfschütteln aus.
Um den Rechten der Kinder – egal ob weiblich, männlich oder ohne eindeutiges Geschlecht – Nachdruck zu verleihen, wurde der 7. Mai zum „Worldwide Day of Genital Autonomy“ – dem weltweiten Tag der genitalen Selbstbestimmung – erklärt, wobei das Datum als Symbol für das Kölner Urteil steht, welches die Kinderrechte deutlich unterstrichen hat.
Für den 7.Mai dieses Jahres riefen Kinderschutz-, Menschenrechts- und Ärzteverbände deshalb zu einer Kundgebung auf, die ihren Auftakt an jener symbolträchtigen Stelle hatte – dem Landgericht Köln. Nach der Auftaktkundgebung zogen die Demonstranten durch die Kölner Innenstadt, um sich auf dem Roncalliplatz am Dom zur Abschlusskundgebung zu versammeln. Es wurde nicht nur an das Urteil erinnert, sondern auch ganz klare Forderungen an die Bundespolitik gestellt, darunter die Rücknahme des Paragraphen 1631d BGB und die Einrichtung eines Runden Tisches, um die Interessen aller Beteiligten bei einer zukünftigen Regelung angemessen berücksichtigen zu können.
Irmingard Schewe-Gerigk, Vorsitzende von TERRE DES FEMMES, sagte in ihrer Rede:
„Daß dieser irreversible, schmerzhafte Eingriff nicht dem Kindeswohl entsprechen kann liegt meines Erachtens nach auf der Hand. Narkose, Risiken, Nachblutungen, Fistelbildung, sexuelle Einschränkungen, zum Teil psychische Belastungen können die Folge sein. (…) Wir wollen, daß die Politik einsieht, daß sie nicht Menschen unterschiedlich behandeln kann, ob sie Mädchen oder Jungen sind, und wir kämpfen für die körperliche Unversehrtheit von Kindern als Menschenrecht.“
Mina Ahadi, Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime:
„Vor einem Jahr hat das Kölner Landgericht festgestellt daß die Beschneidung eines Jungen (…) dem Kindeswohl nicht entspricht. Dem ist zuzustimmen. Die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern werden tatsächlich nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie warten müssen, bis sich das dann erwachsene Kind selbst für oder gegen eine Beschneidung entscheidet. (…) Mit dem Skandal der deutschen Legalisierung der rituellen Jungenbeschneidung beim gleichzeitigen Verbot jeder Form der Mädchenbeschneidung werden Jungen und Mädchen in Bezug auf ihre seelische und körperliche Gesundheit und Unversehrtheit unterschiedlich behandelt, und die Jungen benachteiligt. Das verstößt eklatant gegen das Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsgesetz.“
Dr.Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte:
„Wir Kinder- und Jugendärzte haben uns schon seit vielen Jahren für das Recht aller Kinder auf körperliche Unversehrtheit eingesetzt. (…) Die Vorhaut ist kein überflüssiges Hautanhängsel, sondern die Vorhaut hat eine ganz wesentliche Funktion, und es gibt überhaupt keine medizinische Indikation zur prophylaktischen Entfernung der Vorhaut bei kleinen Kindern.“
Als letzter Redner sprach Alexander Bachl vom Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V.:
„Dieses Urteil war ein Lichtblick für alle leidenden Männer, die so viele Jahre ihr Unglück für sich behalten haben – endlich Gerechtigkeit. Was dann folgte, war die unwürdigste Debatte in der Geschichte der Bundesrepublik. (…) Kein Kind hat je darum gebeten, daß man ihm die Vorhaut abschneidet, es sind immer und einzig die Vorstellungen von Erwachsenen, die hier unter Ausnutzung ihrer physischen Überlegenheit verwirklicht werden. (…) Einzig die Zwangsbeschneidung an wehrlosen Kindern macht die Beschneidung überhaupt zu einem Massenphänomen.“
Es ist unübersehbar, daß die Debatte keineswegs vorüber ist. Zu unausgegoren ist dafür das Gesetz der Regierung Merkel, und die Proteste gegen Zwangsbeschneidungen an Jungen werden wie auch die gegen Mädchenbeschneidung und „geschlechtskorrigierende“ Operationen weitergehen. Der Worldwide Day of Genital Autonomy fand nicht nur in Deutschland, sondern auch bei Kinderrechtsgruppen weltweit großen Zuspruch, und soll in Zukunft Vereine und Organisationen rund um den Globus vereinen helfen, damit eines Tages Kinder in aller Welt aufwachsen können mit der Gewissheit, über ihre Genitalien selbst bestimmen zu können.