Beschneidung, Religion und §1631d

Diesen Text habe ich im Oktober 2012 verfasst. Ursprünglich als Leserartikel gedacht, wurde er dann aber etwas zu lang und fand seine Verbreitung als PDF im Internet.

Die Beschneidung – was genau ist das eigentlich ?

Alle haben es schon mal gehört, die Moslems und die Juden machen es,
das weiss man, aber bei vielen hört das Wissen über diese Operation an
dieser Stelle auf. Man ist ja nicht betroffen, wozu also auch informieren.

Die Beschneidung beim Mann – und um diese geht es hier – wird auch
als Zirkumzision bezeichnet. Es handelt sich hierbei um einen chirurgischen
Eingriff, bei dem die Vorhaut – die Haut, die die Eichel des Penis umgibt –
entfernt wird.
Die Vorhaut dient dem Schutz der Eichel vor Verletzungen, Austrocknung und
Reibung, sie hält die Eichel feucht und geschmeidig, und dient zudem als
Hautreserve für die Verlängerung des Penis bei der Erektion.
Sie enthält ungefähr 20.000 Nerven und gefühlsempfindliche Zellen (Meissnersche
Tastkörperchen), und ist damit erheblich gefühlsempfindlicher als z.B. Fingerkuppen oder Lippen.
Das innere Vorhautblatt ist eine Schleimhaut, die vom Eichelkranz (Corona) bis zur
Spitze der Vorhaut verläuft. Sie liegt an der Eichel an und ist an ihrem Ende mit dem
äußeren Vorhautblatt verbunden. Diese läuft zurück über die Eichel und das innere
Vorhautblatt und geht in die Schafthaut des Penis über. Das innere und äußere Blatt
sind ausser an der Spitze nicht miteinander verwachsen und lassen sich gegeneinander
verschieben. An der Unterseite des Penis ist das innere Vorhautblatt durch das
sogenannte Vorhautbändchen (Frenulum) mit der Eichel verbunden.
Die Verschiebbarkeit der Vorhautblätter gegeneinander und der Penishaut gegenüber dem
Schaft spielen eine wichtige Rolle bei der Erzeugung sexueller Lust und dem
auslösen des Ejakulationsreflexes.

Bei der Beschneidung wird diese Vorhaut ganz oder teilweise entfernt, das
genaue Ausmaß hängt u.a. vom Stil und der angewendeten Methode ab.
Man unterscheidet zwischen 4 grundsätzlichen Stilen:

High & loose; äußeres Vorhautblatt abgetragen, inneres Vorhautblatt in Falten
High & tight; äußeres Vorhautblatt und Teil der Schafthaut abgetragen
Low & loose; inneres Vorhautblatt abgetragen, äußeres Vorhautblatt hier zweilagig umgestülpt
Low & tight; inneres und äußeres Vorhautblatt abgetragen (Radikale Zirkumzision)
(vgl. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Beschneidungsstile,_Styles_of_Circumcision.jpg)

Zur Ausführung gibt es mehr als ein dutzend verschiedener Techniken, von einer völlig
freihändigen Arbeit bis hin zu ausgefeilten Klemmen.
Je nach Technik sind bestimmte Stile möglich. Während in den USA vornehmlich „high & tight“ beschnitten wird, sind im europäischen Raum eher die „low“-Stile verbreitet.
Ungefähr 50% der gesamten Haut des Penis und 70-80% des sensorischen Gewebes gehen hierbei verloren, bei der radikalen Zirkumzision sogar nahezu 100%.
Aufgrund des fehlenden Schutzes der Eichel vor Austrocknung und Reibung beginnt
diese zu keratinisieren – es bildet sich im Laufe der Zeit eine Art Hornhaut, die die
Empfindlichkeit der Eichel reduziert und die somit Stimulierbarkeit weiter herabsetzt.

Das Beschneidungsgesetz

Zur Zeit (Okt. 2012) gibt es in der Bundesrepublik keine spezielle Regelung über die
Rechtmäßigkeit von medizinisch nicht indizierten Beschneidungen an minderjährigen
Jungen.Generell erfüllt die Beschneidung eines minderjährigen den Tatbestand der Körperverletzung.
In der Praxis wurde die Beschneidung jedoch nicht rechtlich geahndet, da Unklarheit darüber herrscht, ob die Eltern berechtigt sind, an Stelle des Kindes die Einwilligung zur Operation zu geben (vgl. §228 StGB).

Im Jahr 2004 fällte das Landgericht Frankenthal ein Urteil zur Beschneidung durch Nicht-
Mediziner, wobei eine rechtlich wirksame Einwilligung der Eltern verneint wurde.

Im August 2007 stellte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main fest, dass die Entscheidung über eine Beschneidung wegen der „körperlichen Veränderung, die nicht rückgängig gemacht werden kann, […] in den Kernbereich des Rechtes einer Person [fällt], über sich und ihr Leben zu bestimmen.“

Das Landgericht Köln sprach am 7. Mai 2012 in zweiter Instanz ein Urteil, das die Zirkumzision als Körperverletzung einstuft, welche durch eine religiöse Motivation und den Wunsch der Eltern nicht gerechtfertigt werde und die nicht im Wohle des Kindes sei.

Das Urteil vom Mai 2012 löste heftige Proteste von Vertretern religiöser Gruppen aus, woraufhin von Seiten der Politik umgehend mit der Zusage reagiert wurde, daß die religiös motivierte Beschneidung von minderjährigen muslimischen und jüdischen Jungen in Deutschland erlaubt bleiben würde.
Am 23. August 2012 einigte man sich in einer öffentlich Plenarsitzung des Deutschen Ethikrates „ungeachtet tiefgreifender Differenzen“ auf vier Mindestanforderungen für eine gesetzliche Regelung:

  •  umfassende Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten
  • qualifizierte Schmerzbehandlung
  • fachgerechte Durchführung des Eingriffs sowie
  • Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen.

Die explizite Erwähnung tiefgreifender Differenzen verdeutlicht die Schwierigkeit, eine
Beschneidung minderjähriger Jungen gesetzlich zu Regeln.

Am 10. Oktober 2012, also nur gut eineinhalb Monate später, wurde von Bundeskabinett
folgender Gesetzentwurf verabschiedet:

Artikel 1
Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
Nach § 1631c des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar
2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel … des
Gesetzes vom … (BGBl. I S. …) geändert worden ist, wird folgender § 1631d eingefügt:
㤠1631d
Beschneidung des männlichen Kindes
(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche
Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese
nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die
Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.
(2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer
Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen,
wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der
Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

Genau hier beginnt nun das Problem – denn dieser Gesetzentwurf ist weit von der befriedigenden Lösung entfernt, als die er von den Politikern angepriesen wurde.

Nehmen wir den Gesetzentwurf mal Stück für Stück unter die Lupe:

Zuerst einmal fällt auf, daß das neue Gesetz im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert werden
soll, im Bereich der Personensorge.
Aber war in den Gerichtsurteilen nicht von Körperverletzung und somit dem Strafgesetzbuch die Rede ?
Richtig, und diese Verlagerung geschieht nicht grundlos. Die von Vielen als genitale
Verstümmelung verstandene Körperverletzung, um die es sich bei der Beschneidung handelt, soll möglichst weit vom StGB weggerückt werden, in den Bereich der Erziehung und Fürsorge.

Dies soll bezwecken, die öffentliche Wahrnehmung der Beschneidung von der Körperverletzung weg hin zu einer normalen Erziehungsentscheidung zu ändern, und das Image der Operation zu verbessern. Offensichtlich hofft man, zukünftiger Kritik möglichst viel Nährboden zu entziehen.

Im ersten Absatz der Gesetzes wird den Eltern zugestanden, über eine Beschneidung
des Jungen entscheiden zu dürfen.
Wer hier den Hinweis auf religiöse Motivation vermisst, auf die sich die ersten Ankündigungen des Gesetzes ja bezogen, darf sich nicht wundern.
In der Bundesrepublik sind Sondergesetze für religiöse Gruppen nicht zulässig. Somit muss
das Gesetz zwingend so formuliert werden, daß es für alle gleichermaßen Gültigkeit besitzt.
Auch dürfen keine religiösen Motive gesondert bevorzugt oder benachteiligt werden.
Aus diesem Grund bezieht sich das Gesetz auf alle medizinisch nicht notwendigen
Eingriffe.

Im Klartext bedeutet das, daß Jeder seinen Sohn aus jedem beliebigen Grund beschneiden
lassen darf.
Dies schliesst auch rein kosmetische Gründe ein – wer einen beschnittenen Penis persönlich
hübscher findet, darf seinen Sohn diesem Schönheitsideal anpassen.
Auch das Verlangen, dem Kind die Selbstbefriedigung zu erschweren, oder es gar für einen
solchen Vorgang zu bestrafen, wären denkbar.
Ausgenommen sind nur Fälle, in denen „das Kindeswohl gefährdet wird“ – eine sehr
schwammige Formulierung, die eigentlich nur greift, wenn das Kind z.B. Bluter ist
oder sich sonstige, schwerwiegende Komplikationen von vornherein erkennen lassen.
Ob nämlich eine Kindheit mit erschwerter Masturbation und hierdurch einer von den Eltern
vermuteten Rettung vor moralischer Verwahrlosung das Kindeswohl gefährdet dürfte sich
in der Praxis nicht nachweisen lassen.

Zumindest die vom Ethikrat geforderte fachgerechte Durchführung wurde teilweise in das
Gesetz aufgenommen.
Aber wie sieht es überhaupt aus mit den vier Mindestanforderungen … sind die erfüllt ?
Mitnichten.

Umfassende Aufklärung wird im Gesetzestext nicht explizit gefordert.

Qualifizierte Schmerzbehandlung ebensowenig – hier kommt erschwerend hinzu, daß
bei Kindern bis zum 6. Monat auch von nicht-Ärzten beschnitten werden darf, die
wiederum nicht narkotisieren dürfen. Doch grade bei Kindern in diesem Alter ist das
körpereigene Schmerzunterdrückungssystem noch nicht voll ausgebildet, und somit
eine gründliche Betäubung unerlässlich. Nur die – für Säuglinge nicht geeignete und
somit nur im Notfall zum Einsatz kommende – Vollnarkose garantiert Schmerzfreiheit,
alle anderen Varianten haben sog. „Wirkungslücken“, d.h. daß sie z.T. in 5-10% der
Fälle nicht ausreichend betäuben.

Die Forderung nach der fachgerechten Durchführung ist immerhin enthalten, allerdings
ist nicht klar definiert, was unter „vergleichbarer Befähigung“ zu verstehen ist.
Zudem muss zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß ein von einer
Religionsgesellschaft vorgesehener Beschneider im Bereich der Kindeswohlprüfung
durch seine religiösen Überzeugungen befangen sein könnte, hier besonders im
Bereich der Bewertung eines evtl. erkennbaren entgegenstehenden Willens des Kindes.
Auf Seite 8 finden sie hierzu noch eine detailierte Erwähnung.

Bleibe noch die Forderung nach dem Vetorecht. Im Gesetzestext findet es keinerlei
Erwähnung. Wer sich den 26-seitigen Begleittext zum Gesetzentwurf durchliest, findet
auf Seite 24, unter „d) Berücksichtigung des Kinderwillens“ den Hinweis, das dies nicht
erforderlich sei, da dies bereits im geltenden Recht geregelt sei.
Sehr wackelig wird es dann im weiteren Verlauf:
„Auch unterhalb der Schwelle von Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist ein ernsthaft und
unmissverständlich zum Ausdruck gebrachter Wille des (nicht einwilligungfähigen) männlichen Kindes aber nicht irrelevant: Mit Blick auf §1626 Abs.2 S.2 und §1631 Abs.2 BGB sind die Eltern in einer solche Situation gehalten, sich mit dem entgegenstehenden Kindeswillen auseinanderzusetzen.“
Hierzu:
§1626 (2.2) Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.
§1631 (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Die Eltern sind also gehalten – nicht verpflichtet – sich mit dem Kindeswillen
„auseinanderzusetzen“ – nicht, ihn zu beachten.
In der Praxis dürfte das dann so aussehen, daß ein Kommentar wie „Davon verstehst du noch nichts“ oder „Ich weiss, was gut für dich ist“ die Willensäußerung des Kindes ausser Kraft setzt. Einvernehmen anzustreben bedeutet nicht, das der Kinderwille ausschlaggebend wäre. Von Vetorecht kann hier keine Rede sein, selbst als Mitspracherecht kann man das nur schwerlich bezeichnen. Mit Blick auf die Schwere und Irreversibilität des Eingriffs ist das völlig unzureichend.

Bis hierher ist das alles schon mal nicht sonderlich erbaulich.
Und es kommt noch schlimmer.
Da das Gesetz, wie oben bereits erwähnt, recht weit gefasst werden muss, ergeben sich
noch zusätzliche Bedenken.

Da wäre zum Beispiel der Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter. Dies Gesetz betrifft nur Jungen, keine Mädchen. Nun ist aber eine weniger invasive Beschneidung bei Mädchen durchaus in Umfang und Auswirkung mit der männlichen Beschneidung vergleichbar.
Zum Vergleich: die Klitoris besitzt ca. 8.000 Nerven, die männliche Vorhaut 20.000.
Die Beschneidung weiblicher Genitalien (FGM, female genital mutilation – weibliche
Genitalverstümmelung) wird unterteilt in mehrere Schweregrade, FGM I, II und III.
FGM III ist hierbei die bekannteste, weil in den Medien am häufigsten diskutierte
Form der FGM, bei der die Vagina fast vollständig verstümmelt wird.
Bei den FGM der Typen I und II kommen weniger invasive Techniken zum Einsatz. Der
Typ IIa z.B. beschreibt die Entfernung der kleinen Schamlippen (Labien). Diese bestehen aus dem gleichen Gewebetyp wie die männliche Vorhaut, somit ist ein Vergleich der beiden im
Hinblick auf eine Amputation durchaus naheliegend.
Hier böte das Gesetz einen Ansatzpunkt, um das derzeit geltende vollumfängliche Verbot der Beschneidung weiblicher Kinder auszuhebeln.
Mit der gleichen Begründung liesse sich das Gesetz allerdings auch anfechten, was dann
wiederum die angestrebte Rechtssicherheit für religiöse Gruppen in Frage stellt.

Des weiteren könnte man das Gesetz zum Anlass nehmen, auch für andere Formen der
Körpermodifikation eine Legalisierung im Rahmen der Personensorgerechts einzuklagen.
Da wären zum Beispiel Tätowierungen oder Brandings (Brandmale), oder das Einsetzen
von Implantaten. In Indonesien werden Jungen zu Beginn der Pubertät Bambus- oder Metallkugeln, sogenannte Implants, in den Penisschaft oder die Eichel eingesetzt.

Spätestens wenn ein Angehöriger eines Kulturkreises, in dem so etwas üblich ist, überzeugend vorträgt, daß es zum Kindeswohl gehöre und das Kind ohne diese Kennzeichen nicht voll in den elterlichen Kulturkreis integriert werden kann, wäre es schwierig, stichhaltige Gegenargumente vorzubringen.

Abwegig, aber nicht undenkbar, wäre auch eine Forderung, die Prügelstrafe wieder zu
legalisieren. Zwar ist diese bisher explizit verboten, aber sie hat mit der rituellen Beschneidung etwas gemein: sie hat eine jahrtausendelange Tradition und wird in der Bibel an unzähligen Stellen auch gefordert:

Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, / wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht. (Spr 13,24)

Züchtige deinen Sohn, solange noch Hoffnung ist, / doch lass dich nicht hinreißen, ihn zu töten. (Spr 19,18)

Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; / wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. (Spr 23,13)

Wie Musik zur Trauer ist eine Rede zur falschen Zeit, / Schläge und Zucht aber zeugen stets von Weisheit. (Sir 22,6)

Beug ihm den Kopf in Kindestagen; schlag ihn aufs Gesäß, solange er klein ist, sonst wird er störrisch und widerspenstig und du hast Kummer mit ihm. (Sir 30,12)

Bei derart klaren Aussagen müsste eigentlich einem Bibelfundamentalisten zugestanden werden können, seine Kinder zu schlagen, denn schließlich zielten alle diese Zitate ursprünglich ja darauf ab, dem Kindeswohl zu dienen.

Aber selbst jenseits derartiger Horrorszenarien ist der Gesetzentwurf ein massiver
Rückschritt.
Um religiöse Riten und Gebote zu schützen, wurde eine Form der genitalen Verstümmelung
so bagatellisiert, daß sie jetzt nach gutdünken der Eltern dem Kindeswohl dienen können soll.
Die Rechte der Jungen auf körperliche und seelisch Unversehrtheit, auf sexuelle Selbstbestimmung und nicht zuletzt ihre Religionsfreiheit und ihr Recht auf Gleichbehandlung der Geschlechter wurden der Willkür der Eltern geopfert.

Willkür ? Ging es denn nicht um die Religionsfreiheit der Eltern ?
Ursprünglich ja, aber da das Gesetz keine religiösen Unterschiede machen darf, ist die
Religionsfreiheit der Eltern nur noch der undokumentierte Anlass für das Gesetz.
So wie es jetzt steht, ist die eigentlich verständliche Intention herausgefallen, und die
Legalisierung der Beschneidung vom „Schutz der Religionsfreiheit der Eltern“ zum
„Erlaubt, weils ja eigentlich völlig banal und harmlos ist“ verkommen.

Vor dem Hintergrund der massiven Kritik von Ärzten und Kinderschutzverbänden und der
schwere des Eingriffs, hier besonders die Unmöglichkeit der Rückgängigmachung, ist ein
so leichtfertiger Umgang mit der Beschneidung minderjähriger Jungen nicht zu
rechtfertigen. Dafür werden ihre Grundrechte zu stark auf die Eltern übertragen und sind
für die Kinder somit nicht mehr wahrnehmbar.
Auch wenn es vielen nicht bewusst sein mag, oder sie es verdrängen, die zwangsweise Amputation eines Teils des Geschlechtsorgans ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen ist nichts anderes als genitale Verstümmelung.

Ist die Beschneidung denn nun wirklich so schlimm, wie die Kritiker behaupten ?

Genau an diesem Punkt sollte man zunächst einmal annehmen, daß bei einer so alten
und in einigen anderen Teilen der Welt weit verbreiteten Operation eigentlich Klarheit
herrschen müsste.
Doch weit gefehlt.

Zwar gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, doch kaum eine davon ist hier
vorbehaltslos verwertbar. Das betrifft sowohl diejenigen Werke, die die Beschneidung
befürworten, als auch die, die sie ablehnen.
Viel Studien sind umstritten, einige kommen je nach Auslegung zu teils widersprüchlichen
Ergebnissen. Wieder andere basieren auf anderen Kulturkreisen oder Rahmenbedingungen,
also wir sie in unserer derzeitigen Debatte vorfinden.

So wird z.B. gerne auf eine Empfehlung der WHO zu Kindesbeschneidung hingewiesen.
Betrachtet man den Hintergrund, so wird schnell klar, warum sie für uns nicht verwertbar
ist.
Zum einen bezog sich die Studie auf afrikanische Länder, wo zum einen die hygienischen
Verhältnisse, speziell in ländlichen Regionen, weitaus schlechter sind als in Westeuropa.
Gleiches gilt für die medizinische Versorgung. Einige Krankheiten und Infekte, die für einen
armen Menschen in der Dritten Welt, der nicht einmal Zugang zu sauberem Trinkwasser hat,
durchaus tödliche Folgen haben können, sind hierzulande problemlos behandelbar und kaum einer Krankschreibung Wert.

Die Beschneidung im Kindesalter zielt hier auf die geringere Komplikationshäufigkeit ab, die unter schlechten hygienischen Verhältnissen erheblich wichtiger ist in Deutschland. Somit spielen hygienische Gründe in der deutschen Debatte keine Rolle.
Zum zweiten betonte die Studie vor allem die positiven Auswirkungen auf die Ansteckungsgefahr mit Geschlechtskrankheiten wie HIV und HVP. Eine südafrikanische Studie von 2008 kommt hier im Falle von HIV jedoch zu dem Ergebnis, daß kein Vorteil erkennbar wäre.
Auch dies ist für uns nicht relevant, denn in Westeuropa ist die Benutzung von Kondomen weit verbreitet, welche einen ungleich höheren Schutz bieten, vor allem auch einen Schutz für beide Sexualpartner. Die Beschneidung könnte das Risiko bestenfalls verringern, und im Falle von HIV auch nur für den Mann. Dazu kommt noch die mögliche Gefahr, keine Kondome zu benutzen, bedingt durch die ohnehin schon verringerte Sensibilität des Penis und das trügerische Sicherheitsgefühl.
Weiterhin ist bei unter 14-jährigen Jungen auch nicht davon auszugehen, daß sie im Regelfall viel ungeschützten Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden PartnerInnen haben.

Zudem muss man bedenken, daß die immer wieder bagatellisierte Beschneidung kein
harmloser Eingriff ist. Je nach Definition wird die Komplikationsrate zwischen 0.06%
und 55% angegeben, bzw. zwischen 2% und 10% geschätzt.
Einer US-amerikanischen Untersuchung zufolge sterben in den USA jährlich schätzungsweise um die 117 neugeborene Jungen an den Folgen von Beschneidungen.
Auf die deutsche Einwohnerzahl umgerechnet wären das 30 Todesopfer im Jahr, bezogen auf eine
vergleichbare Beschneidungsquote.
Auch viel nicht-lebensbedrohliche Komplikationen können auftreten. Dazu zählen unter anderem krankhafte Verengungen der Harnröhrenöffnung (ca.10% Inzidenzrate), Verwachsungen und Hautbrücken, Erektionsstörungen im Alter, Penisschiefstellung und Penishypoplasie.

Studien zu psychichen Folgen der Beschneidung sind rar. Die Verfügbaren legen jedoch
nahe, das eine Beschneidung traumatisierend sein kann.
Die Ausprägung eine möglichen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS (engl. PTSD), im
ICD-10 als F43.1 codiert) wird von folgenden Faktoren beeinflusst:

  • Gefühle der Machtlosigkeit und des Kontrollverlusts
  • fehlende Zustimmung
  • fehlende Information darüber, was während der Untersuchung geschehen soll
  • fehlendes Einfühlungsvermögen des untersuchenden Arztes
  • die Erfahrung von physischem Schmerz

Wie häufig dies bei Säuglingen auftritt ist noch nicht ausreichend untersucht.
Es gibt jedoch eine Studie, bei der 1577 philippinische Jungen zwischen 11-16 Jahren
ohne vorherige PTBS vor und nach der Beschneidung beobachtet wurden.
Nach dem Eingriff konnte bei 50 % der mit Lokalanästhetikum und 69 % der rituell (ohne
Lokalanästhetikum) beschnittenen Jungen eine PTBS nach DSM-IV Kriterien diagnostiziert
werden.

Die Untersuchungen über die Folgen für das Sexualleben sind naturgemäß subjektiver als
die über direkte körperliche Komplikationen.
Dennoch kann man ableiten, daß die Beschneidung das Sexualleben spürbar beeinflusst,
sowohl in Bezug auf die empfundene Lust als auch auf Orgasmus- und Erektionfähigkeit.

In einer Studie an 373 Männern wurde der Einfluss der Beschneidung auf die Masturbation
erhoben: 48 % erlebten die Masturbation nach der Beschneidung als weniger lustvoll, 8 % als verstärkt lustvoll, 44 % empfanden keine Veränderung. Nach dem Eingriff hatten 63 % Schwierigkeiten bei der Masturbation, 37 % erlebten sie hinterher als leichter.

In einer südkoreanischen Studie gaben von 138 vorher sexuell aktiven Männern 6 % eine Verbesserung ihres Sexuallebens an, 20 % eine Verschlechterung.
Ebenso antworteten von 123 beschnittenen Männern auf diese Frage in einer griechischen Studie 16% mit einer Verbesserung, jedoch 35 % mit einer Verschlechterung.

Auch wenn es noch keine auf die speziellen Umstände in Deutschland zugeschnittene Studie über die Risiken und möglichen Spätfolgen einer Beschneidung bei minderjährigen Jungen gibt, so lässt sich doch mit Sicherheit feststellen, daß es sich hier um einen deutlich gravierenderen Eingriff geht, als uns der Gesetzentwurf vorgaukeln möchte.
Die Entscheidung über eine genitale Verstümmelung praktisch völlig aus der Hand des Jungen zu nehmen und sie rein den Eltern zu überlassen erscheint mehr als fragwürdig.

Wäre es da nicht einfacher, die Wahl gleich beim Jungen zu lassen ?
eigentlich schon, denn das würde alle rechtlichen und moralischen Bedenken praktisch beseitigen.
Man könnte das Alter, in dem der Junge die Entscheidung eigenverantwortlich treffen kann, in  Anlehnung and das Alter der Religionsmündigkeit koppeln.
Mit demzufolge 14 Jahren wäre er zeitgleich strafmündig, was nahelegt, daß
man ihm diese Entscheidung durchaus zutrauen und aufbürden kann.
Trotzdem sollte man auch ein höheres Alter nicht von vorn herein ausschliessen,
da die Möglichkeit besteht, daß ein Junge mit 14 Jahren noch nicht die Selbständigkeit
besitzt, sich einem ggf. von Familie und sozialem Umfeld ausgeübten Druck erfolgreich
zu widersetzen, und er sich somit genötigt sehen könnte, entgegen seiner eigenen
Entscheidung doch in die Operation einzuwilligen.
Hier wäre die Überlegung angebracht, ob ein Alter von 16 oder gar 18 nicht eher im
Sinne des Kindes läge.

Aber da war doch noch was – genau, die Religionsfreiheit der Eltern.

Betroffen von einer derartigen Änderung wären Moslems und Juden.

Im Islam ist die Beschneidung kein direktes Gebot, sie wird im Koran nicht explizit
erwähnt. Auch gibt es keine strengen Vorschriften bezüglich des Alters, in dem die
Beschneidung vollzogen werden soll.
Es gilt als eines der Zeichen des Prophetentums, dass die Propheten bereits beschnitten – also ohne Vorhaut – geboren werden. Beschnitten zu sein kann interpretiert werden als ‚dem Vorbild der Propheten zu entsprechen‘.
Hier könnte man, ohne die Religionsfreiheit unzumutbar einzuschränken, einen
Kompromiss etablieren: eine symbolische Beschneidung im Kindesalter, sofern das gewünscht wird, während die tatsächliche Operation erst vollzogen wird, wenn sich der betroffene Junge im Alter von mindestens 14 Jahren selber dazu entschliesst.
Dem könnte lediglich noch die Sorge einiger Gläubiger entgegenstehen, daß die Tradition der Beschneidung sich nicht mehr im bisherigen Maße fortführen lässt – in einer Mitte August 2012 ausgestrahlten Folge von „Menschen bei Maischberger“ plädierte der muslimische Arzt und Beschneidungsspezialist Sebastian Isik dafür, die Beschneidung möglichst frühzeitig vorzunehmen, da ältere Kinder dem Eingriff wohl mehrheitlich nicht mehr zustimmen würden. (Zitat: „90% der Kinder wollen das bestimmt nicht“, nachzusehen unter http://www.youtube.com/watch?v=BZUicJze0lw)
Was übrigens auch die Befürchtung nahelegt, das es in Einzelfällen wider besseren Wissens um einen der Beschneidung entgegenstehened Willen des Kindes eben dieser bewusst missachtet werden könnte.

Erheblich schwieriger wird die Situation im Judentum.

In Gen 17,10–14 EU heißt es:„Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles,was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euchbeschneiden lassen […] Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind,beschnitten werden.“

Hier ist nicht nur ein klarer Zwang definiert, sondern auch ein konkreter Zeitpunkt.
Zwar gibt es im Judentum Gruppen, die die Beschneidung am 8. Tag (Brit Mila) bereits weitgehend durch die rein symbolische (Brit Schalom) ersetzt haben, doch ihre Zahl ist noch sehr gering. Eine zwangsweise zeitliche Verschiebung würde mit dem Gebot nicht zu vereinbaren sein.
An dieser Stelle wäre ein Kompromiss nicht mehr möglich.

Man muss sich daher die Frage stellen, wie weit die religiöse Freiheit der Eltern in Deutschland gehen darf. Um die Brit Mila zu erlauben, ohne die genitale Verstümmelung vollumfänglich zu legalisieren, müsste man den Eltern zugestehen, ihre religiösen Verpflichtungen auch dann durchzuführen, wenn sie es erfordern, andere zu verletzen.

Hier sind wir an dem Punkt, an dem das Recht der Eltern, ihre regiliösen Riten auszuüben, ganz klar mit den Rechten des Kindes kollidiert. Denn die religiöse Verpflichtung zur Beschneidung haben die Eltern, das gesetzliche Recht bis zur eigenen freien Entscheidung unbeschnitten zu bleiben, hat der Sohn.
Kann und darf man in dieser Situation das Elternrecht über das Kinderrecht stellen ? Oder anders ausgedrückt, steht hier ein religiöses Gebot über dem Grundgesetz ? Dies ist klar zu verneinen.

Der Versuch, das Recht eines jüdischen Jungen über den Umweg einer generellen Entrechtung aller Jungen in Bezug auf körperliche Unversehrtheit auszuhebeln, stellt nichts anderes dar, als den Versuch der Strafvereitelung.

Hier versucht der Gesetzgeber, einer Konfrontation mit den religiösen Würdenträgern um jeden Preis aus dem Wege zu gehen, was zwar in Anbetracht der deutschen Geschichte nicht unverständlich ist, sich aber mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbaren lässt. Es wird lieber das Grundgesetz relativiert und der Kinderschutz zurückgenommen, als selbiges gegen dazu im Widerspruch stehende religiöse Bräuche zu verteidigen.
Womit die Bundesregierung ganz nebenbei auch die von ihr im Jahre 1990 unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention abwertet.
In dieser verpflichtete sich Deutschland, gemäß deren Artikel 24 „alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen [zu treffen], um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“.
Angesichts der oben erwähnten Risiken einer Beschneidung kann man diese bei fehlender medizinischer Indikation sehr wohl als schädlich für die körperliche und/oder psychische Gesundheit betrachten, insbesondere aufgrund des Umstandes, das eine Ungefährlichkeit nicht zweifelsfrei feststellbar ist.

Es ist also abzusehen, daß die Debatte um die Beschneidung minderjähriger Jungen noch sehr lange weitergeht. Sollte die Politik den vorgelegten Gesetzentwurf in unveränderter Form in Kraft setzen, so wäre das eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates, ein politischer Kniefall vor religiöser Überzeugung und nicht zuletzt eine Katastrophe für den mühsam erkämpften Schutz der Kinder und deren Rechte.

Denn es geht, leider, nicht nur um die Beschneidung alleine, wenn wir über §1631d reden.
Das Gesetz bagatellisiert und relativiert körperliche Eingriffe, und es entsteht der Eindruck,
man könne ja ruhig hier und da ein wenig abschneiden – solange die Eltern sich sicher sind,
daß es das beste für das Kind ist, wird’s schon nicht so schlimm sein.
Ein solches Zeichen kann und darf Deutschland nicht setzen.

Sicher, ein Verbot von Beschneidungen an unter 14-Jährigen würde international Wellen
schlagen. Doch wären diese Wellen falsch ? Ich denke nicht.
Man darf nur nie die Sachlichkeit aus den Augen verlieren. Besonnen vorgetragen würden
unsere Argumente nicht nur Unverständnis auslösen, sondern, ganz im Gegenteil, auch ein
positives Zeichen setzen. Ein Zeichen, daß Deutschland seine Lektion aus der Geschichte
nicht nur gelernt, sondern auch an ihr gereift ist.
Die Vergangenheit hat uns gezeigt, daß es überlebenswichtig ist, das Recht zu schützen.
Und je schwächer der Betroffene, desto geschlossener muss die Gesellschaft hinter ihm stehen.
Im Zweifel für den Angeklagten, so lautet ein Grundsatz. Wenn wir uns nicht sicher sein
können, daß ein Kind davon profitiert, einen Teil seinen Penis zu verlieren, ohne frei darüber
entschieden zu haben, so ist es unsere Pflicht, das zu verhindern.

Niemand will die Religionen unterdrücken oder kaputtreglementieren. Doch Grenzen muss
man ziehen, auch wenn diese schmerzhaft sein können.
In den USA haben religiöse Gruppen es geschafft, die Trennung von Kirche und Staat de
facto in einigen Bezirken auszuhebeln, in dem sie erfolgreich darauf klagten, daß die
Schöpfungsgeschichte in den staatlichen Schulen gleichberechtigt zur Evolutionstheorie gelehrt werden muss.

Für uns wäre es undenkbar, kirchliche Lehren in den allgemeinen Lehrplan aufzunehmen, und doch wird es immer wieder versucht – man möge sich da an den Kruzifixstreit erinnern, bei dem auch heftig gestritten wurde. Hier hat der Staat schon einmal die spirituellen Werte einer Gruppe über das Recht der Allgemeinheit erhoben, nicht von ihr behelligt zu werden.

In Deutschland leben ungefähr 4 Millionen Menschen aus muslimisch geprägten Ländern,
und ca. 200.000 Juden. Das sind zusammen etwas über 5% der Bevölkerung.
Ein konsequentes Verbot jeder Form von genitaler Verstümmelung würde also einen nicht
unerheblichen Teil der Bevölkerung mehr oder weniger stark (siehe oben) betreffen.
Können wir so vielen Menschen das zumuten ? Ich denke, wir können es nicht nur, wir müssen es sogar.
Auch wenn viele der strenggläubigen Menschen sich hier in ihrer Freiheit eingeschränkt sehen, ihren Glauben ungehindert ausleben zu können, so muss doch klargestellt werden, daß jedes Glaubensbekenntnis auch die Rechte des Einzelnen zu respektieren hat.
Religion ist schützenswert, und man muss ihr soviel Freiraum lassen, wie man kann. Aber auch die Religion hat die Verpflichtung, sich der Weltanschauung Aller zu stellen. Sie darf nicht im Widerspruch stehen zur säkularen Welt, sondern muss sich mit ihr zusammen weiterentwickeln. Auch wenn dies bedeutet, eine Tradition oder ein Gebot nicht mehr gemäß des genauen Wortlautes ausführen zu können, kann und darf sich eine Religion nicht davor verschliessen. Glaube findet im Kopf und im Herzen des gläubigen Menschen statt, nicht in der Hose seines Sohnes.