„Das zählt heute nicht mehr“, man hört es immer wieder, „das ist nicht verbindlich, es stammt aus einer ganz anderen Zeit, und war je eh nie so gemeint …“.
Kurzum: was auch immer es ist, was Menschen aus religiösen Motiven so alles Unschönes anstellen, es hat grundsätzlich nichts mit der betreffenden Religion zu tun.
Für den einzelnen Gläubigen mag das sogar einleuchten. Denn an die heilige Schrift, die Mutter der Religion, glaubt man so oder so nicht mehr. Zumindest nicht so richtig, und wenn doch, dann lebt man das eben nur nicht so konsequent.
Der gelebte Glaube hat sich für viele Menschen schon weit von seinen Wurzeln entfernt. Er ist ein Wunschkind: gewachsen in der Mutter, der heiligen Schrift, gezeugt vom Samen der menschlichen Vernunft. Doch so sehr man ihn mag, den kleinen, fidelen Knirps, so richtig zu ihm stehen will man dann doch wieder nicht.
Die alte Mutter Schrift sitzt noch immer im Schaufenster – sie bleibt das Aushängeschild, während die Gläubigen mit ihrem Sohn im Garten spielen. Doch steht man vor der Scheibe und zeigt auf ihre Brüste, so zerren sie den Sohn herbei, schieben ihn vor sie und öffnen sein Hemd: „Sehr her, das hier ist sie, die Mutter, und seht, sie hat gar keine Brüste! Brüste haben nichts mit der Mutter zu tun.“ Wir sehen ihn, den Jungen, und man verkauft ihn uns als seine Mutter.
Wenn die Worte so banal sind, daß man sie nicht mehr befolgen muss, wie können sie dann noch immer so heilig sein, daß man sie nicht weglässt? Wie kann man verlangen, daß ein Anderer dann trotzdem genau so vieles ignoriert wie man selbst, ihm gar vorwerfen, er wäre doch gar kein wahrer Gläubiger? Es wird Zeit für ein ehrliches Update, für Religion 2.0. Weg mit dem überkommenen Plunder, hinein mit den Änderungen, die man so selbstverständlich lebt. Die gelebten Religionen müssen sich neu definieren, wenn sie sich nicht an der Mutter messen lassen wollen. Sie müssen den Jungen ins Schaufenster setzen.
Ja, die Anhänger der gelebten Religionen stehen vor einem Problem – sie haben immer weniger Respekt vor der Mutter, und doch können sie nicht von ihr lassen. Sie leben mit dem Sohn, wollen es aber nicht zugeben, ziehen ihm ein Kleid an und stellen ihn uns wieder und wieder als seine Mutter vor – und empören sich, wenn wir auf die wahre Mutter zeigen, statt auf ihren Sohn an ihrer Stelle.
Doch der Junge wird erwachsen, er hat die Hosen herunter gelassen, seinen Schniedel stolz vor sich her getragen und gerufen: „Schaut, ich bin anders – ich bin nicht meine Mutter!“. Wir haben den Unterschied gesehen, und an ihm sprießen schon Haare.
So langsam dürfte es wohl an der Zeit sein, dem Jungen einen Namen zu geben.