Seit dem US-Wahlkampf geistert ein Begriff durch die deutsche Medien-Landschaft: „Fake News“, Falschmeldungen. Sogar die Politik reagierte entsetzt – Wahlmanipulation durch Falschinformation, das sah man als ernste Bedrohung für die Demokratie, der man im eigenen Land vorzubeugen habe.
Wie spät diese Einsicht kommt, und daß es für Vorbeugung eigentlich schon längst zu spät ist, beweist nun der Kölner Stadtanzeiger.
Enedina Vance, 6-fache Mutter aus Ohio, USA postete in einen Facebook-Kommentar ein Bild ihrer kleinen Tochter – mit einem (nachträglich per Photoshop eingefügten) Wangenpiercing.
Der Text dazu war eindeutig: ihre Tochter wäre ihr Eigentum, und sie habe schließlich das Recht mit ihr zu tun was sie für richtig hielte.
Wem das bekannt vorkommt, der liegt nicht falsch: auf den Facebook-Seiten amerikanischer Mütter sind Texte wie der von Enedina Vance regelmäßig zu finden – nämlich immer dann, wenn sie sich dafür zu rechtfertigen versuchen warum sie ihre neugeborenen Söhne haben beschneiden lassen. Diese Ähnlichkeit war ebenso offensichtlich wie gewollt: Vance, die ihre drei Söhne mit intakten Genitalien aufwachsen läßt, protestiert damit gegen die in den USA immer noch legale und gängige Praxis der Routinebeschneidung von männlichen Säuglingen.
Das Posting verbreitete sich viral, und Medien rund um den Globus berichteten. So auch in Deutschland, in diesem Falle durch den Kölner Stadtanzeiger. All das wäre auch nicht sonderlich überraschend, wenn sich die „News“ auf ihrem Wege durch die Kölner Redaktion nicht auf wundersame Weise verändert hätten: von Beschneidung ist in dem Artikel kein Wort mehr zu lesen, lediglich die Hashtags des verlinkten Originalposts lassen noch darauf schließen:
#BodilyIntegrity, #MyBodyMyChoice, #HumanRights, #ChildrensRights, #Intactivism, #IntactGeneration #sarcasm
Besonders krass fällt der Schlußsatz der Kölner ins Auge:
„Der provozierende Text sollte andere Eltern wachrütteln. Besonders das Thema Ohrringe liegt der Mutter aus Ohio am Herzen.“
Passend dazu findet sich nach dem Artikel auch gleich eine Leserumfrage – zum Thema Ohrlochstechen.
Auf ihrer Facebook-Seite schreibt die mutige Mutter das deutlich anders:
„Then, after they realize what the post is actually about, piercing the face doesn’t seem so bad when compared to genital cutting. They have to justify their outrage over a piercing vs their acceptance of genital mutilation.“
Wie es besser ginge – nämlich einfach zu schreiben, worum es geht – das kann man sich auf der Seite Rosenheim24.de ansehen. Deren Artikel beleuchtet die Hintergründe des Postings ausführlich und – vor allem – korrekt.
Offen bleibt die Frage, wieso der/die Autor/-in dieses wichtige Detail so aufwändig umschifft hat – und sich am Ende sogar zu einer völlig erfundenen Aussage hinreißen ließ. Soll in Deutschland keine Kritik an Beschneidungen abgedruckt werden? Hat man Angst vor religiösen Lobbyisten, denen diese Praxis so heilig erscheint?
Wenn einem schon die Courage fehlt, seinen journalistischen Job halbwegs vernünftig zu machen, dann sollte man sich vielleicht zumindest überlegen, was es für Folgen haben kann das Weltgeschehen derart verzerrt wiederzugeben.
Ich jedenfalls höre sie im Geiste schon wieder rufen: „Lügenpresse, Lügenpresse!“ Und angesichts derart eklatanter Fehlleistungen seitens der Kölner Presse – vor deren eigener Haustür, zu allem Überfluß, im Jahre 2012 das „Kölner Urteil“ die europäische Beschneidungsdebatte in Fahrt brachte – gehen mir langsam die Argumente aus, mit denen ich den Rufern noch entgegentreten könnte.
Nachtrag: Heimlich, still und leise …
… hat der KSTA heute (6.7.) Mittag auf die Kritik einiger Leser (darunter auch Mrs. Vance selbst, die von deutschen Lesern auf den verfälschenden Artikel aufmerksam gemacht wurde) reagiert, und den Artikel gründlich überarbeitet. In mehreren Absätzen klärt er nun auch über die eigentliche Motivation der Amerikanerin auf. Erkennbar ist diese nachträgliche Richtigstellung indes nur, wenn man die Bearbeitung neben eine Sicherung der ersten Version hält (siehe hier: Mutter schockiert mit Foto von ihrem gepierctem Baby _ Kölner Stadt-Anzeiger) – einen Hinweis sucht man in der Überarbeitung vergebens, auch auf die Kommentare auf der zeitungseigenen Facebook-Präsenz antwortete die Zeitung nicht – auch nicht auf den der Urheberin des viralen Postings. Es scheint, als wolle man sich hier klammheimlich aus der Affäre ziehen, statt der Kritik mit Transparenz zu begegnen. Ob es wohl zur Unternehmenspolitik gehört, Artikel mit inkorrekten Inhalten nur auf Nachfrage zu berichtigen und dann so zu tun, als hätte dort nie etwas Anderes gestanden?
Auch wenn die schnelle – und gründliche – Korrektur hier durchaus eine lobenswerte Erwähnung verdient hat, so bleibt doch der bittere Nachgeschmack der journalistischen Willkür zurück. Denn wer kann schon sagen, wie verlässlich die Berichterstattung dort tatsächlich ist, ob nicht schon morgen ein anderer Beitrag zu einem anderen Thema wieder wichtige Informationen vorenthält – und ob auch dann wieder aufmerksame Leser zur Stelle sind, um das Bild gerade zu rücken?
Der Leser erwartet von seiner Zeitung, sich auf sie verlassen zu können. Wenn dies nicht mehr gewährleistet ist arbeiten ausgerechnet diejenigen, die uns eigentlich mit fundierten Informationen versorgen sollen, sogenannten „alternativen Nachrichtenquellen“ mit ihren oftmals hanebüchenen Beiträgen auch noch zu. In Zeiten, wo viele Normalsterbliche im Schlagzeilendschungel kaum noch einen Überblick behalten können kann das nicht im Sinne des Erfinders sein.