Stellen Sie sich einmal folgendes Szenario vor: Sie arbeiten in einem Chemieunternehmen, und plötzlich bricht ein Feuer aus. Ihr einziger Fluchtweg führt durch eine große, mit Rauch und Qualm gefüllte Halle voller Chemikalien. Um diese zu durchqueren, haben Sie zwei Möglichkeiten: zum einen könnten Sie ein unbequemes Atemschutzgerät anlegen, zum anderen einfach etwas die Luft anhalten und nur jeden zweiten Atemzug nehmen. Letztere Variante würde ihr Risiko, giftige Dämpfe einzuatmen, um stattliche 50% verringern – also eine echte Alternative zum sicheren Atemschutzgerät. Für welche Variante würden Sie sich entscheiden ?
Wenn Sie sich jetzt grade fragen, welche giftigen Dämpfe der Autor wohl inhaliert haben muss, um solche blöden Fragen zu stellen, sind sie schon sehr dicht bei mir. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was das ganze soll.
In Gesundheitsratgebern und -foren sieht man immer wieder Berichte und Kommentare, die – mehr oder minder explizit – darauf verweisen, daß es Studien gibt, die besagen, eine Beschneidung wäre ein guter Schutz vor HPV, HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Speziell die von der WHO angeführte Verminderung des Ansteckungsrisikos bei HIV um 50-60% ist omnipräsent. Was hierbei außer Acht gelassen wird, mag vielen auf den ersten Blick nicht klar sein, die solche Seiten frequentieren: nämlich, daß ein vermindertes Risiko keinesfalls mit Schutz gleichzusetzen ist – womit wir den Zusammenhang mit meiner Chemiefabrik-Metapher hätten.
Es gibt wirkungsvolle Wege, sich gegen Ansteckung mit Krankheiten im Verlauf des Geschlechtsverkehrs zu schützen – im Falle von HPV (Humane Papillomviren, die Gebärmutterhalskrebs und Mundkrebs auslösen können) gibt es Schutzimpfungen, und Kondome bieten einen umfassenden Schutz sowohl vor HPV als auch vor HIV (AIDS) und anderen Geschlechtskrankheiten. Und ganz nebenbei machen sie auch den Umstand irrelevant, ob der männliche Partner beschnitten oder intakt ist.
All das ist in unseren Breitengraden hinlänglich bekannt. Warum also kritisiere ich die Berichte über die Schutzwirkung einer männlichen Beschneidung? Zum einen, weil sie unvollständig sind. Es ist in der Regel auch in seriösen Zeitungen lediglich die Rede von „(erheblich) geringerem Risiko“, ohne konkrete Zahlen zu nennen. Und selbst im Falle der WHO-Studien, die in der Regel mit klaren Prozentangaben zitiert werden, wird nicht erwähnt, daß diese Studien zum einen wegen ihrer handwerklichen Fehler, die die Ergebnisse zweifelhaft erscheinen lassen, seit Jahren unter heftiger Kritik aus der Medizin stehen, und zum anderen die angegeben Werte freilich nur relativ sind.
Was bedeutet das – relativer Wert ? In der WHO-Studie, die in Kenia durchgeführt wurde (einem HIV-Hochrisikogebiet), kam zu den Ergebnis, daß Beschnittene ein Ansteckungsrisiko bei ungeschütztem Verkehr von 1.5% haben, Unbeschnittene von 3.3%. Also in absoluten Zahlen nur 1.8 Prozentpunkte Unterschied – vergleichsweise wenig, und von einem Schutz weit entfernt. Daß diese Risikominderung im Übrigen nur für den Mann gilt, die Frau jedoch in jedem Falle vollständig ungeschützt bleibt, scheint keiner Erwähnung wert.
Was diese Publikationen so gefährlich macht, ist der unterschwellige Eindruck, den sie vermitteln können. Wer nur oft genug liest, daß sich Beschnittene mit diesem, jenem und solchem weniger oft Anstecken, gerät in Versuchung, einen fatalen Umkehrschluss zu ziehen – bei meinem beschnittenen Partner kann ich mich nicht anstecken. Das senkt die Hemmschwelle, auf wirklichen Schutz – wie Kondome – zu verzichten. Diese sind ohnehin oft unbeliebt, trüben sie doch das Gefühlserlebnis, und für beschnittene Männer stellen sie nicht selten eine große Einschränkung der ohnehin geringeren Empfindsamkeit dar. Warum also nicht hinfort mit ihnen – frei nach einem alten Partysong: „So wie früher, früher, früher, ohne Gummiüberzieher …“.
Wer also eine männliche Beschneidung als Schutzfaktor vor sexuell übertragbaren Krankheiten preist, nimmt in Kauf, Menschen zu ungeschütztem Verkehr zu verleiten, und sie somit einer Gefahr für Leib und Leben auszusetzen. Eine Beschneidung hätte – wenn überhaupt – nur einen Effekt, wenn man Kondome von vornherein als Alternative ausschließt – und das wäre nach unserem heutigen Wissen über sexuell übertragbare Krankheiten schlichtweg unverantwortlich.
Um noch einmal zum Anfang zu springen: ich für meinen Teil hätte mich für die Gasmaske entschieden.