Es ist ruhig. Erstaunlich ruhig sogar. Und das sollte uns eigentlich verwirren.
Erinnern Sie sich noch an die „12 Stämme“ ? Ja, genau – das war diese kleine Gemeinschaft von Ur-Christen, die man im letzten Jahr bei ihrer kurzen Stippvisite auf den Titelseiten der Zeitungen kennenlernen durfte. Der Grund für diese unerwartete mediale Aufmerksamkeit war der Bericht eines RTL-Journalisten, der systematische Züchtigungen von Kindern der Gläubigen aufdeckte. Die Reaktion kam schnell – 40 Kinder nahm das Jugendamt damals in Obhut.
Und genau dagegen regt sich jetzt Widerstand. Denn diese Schläge, so argumentieren die Eltern, wären in ein erzieherisches Gesamtkonzept eingebunden, und seien in einer Art verabreicht worden, die eine Misshandlung ausschließe. Also alles im besten Sinne des Kindes, zumindest wenn man es aus der Sicht der „12 Stämme“ betrachtet. Wobei sie damit auch nicht ganz allein auf weiter Flur stehen – die Züchtigung des Nachwuchses ist bei uns erst seit erstaunlich kurzer Zeit überhaupt verboten, und besonders aus dem konservativen Lager kann man Stimmen vernehmen, denen nach eigener Aussage „der ein oder andere Hintern voll“ keineswegs geschadet habe.
Die Argumentation wird grade dann in sich schlüssig, wenn man sie sich etwas genauer ansieht – denn die Körperverletzungen, die den „12 Stämme“-Eltern vorgeworfen wurden (und die zum Entzug der Kinder führten) vergleichen diese mit der religiös-kulturell motivierten Beschneidung von Jungen. Diese, wir erinnern uns, stellte man nämlich mit einem speziellen Erlaubnisgesetz im Dezember 2012 unter besonderen Schutz – denn auch wenn es sich dabei zweifelsfrei um eine Körperverletzung handelt, so darf diese nun dennoch legal ausgeführt werden, wenn sie das Kindeswohl nicht gefährdet. Und da liegt der Hase begraben und der Hund im Pfeffer – den Befürwortern dieses Gesetzes (§1631d BGB) schien es nämlich einleuchtend, daß ein Unterlassen dieser Körperverletzung für das Kindeswohl weit schädlicher sei als die Operation (samt alles ihrer zwingenden und möglichen Folgen) höchstselbst. Begründet wurde dies gerne damit, daß ein unbeschnittenes Kind möglicherweise nicht als vollständiges Mitglied seiner Peer-group angesehen werden könnte, was dann wiederum eine Gefährdung des Kindeswohls wäre.
Dies lässt sich wunderbar auf viele verschiedene Erziehungsmaßnahmen erweitern, unter anderem natürlich auch auf die Züchtigung. Denn wer möchte es schon einem Kind zumuten, von Gleichaltrigen als „verwöhntes Balg“ gehänselt zu werden, und zulassen, daß man seine geliebten Eltern als „inkonsequente Weicheier“ beschimpft ? Und selbst wenn das betreffende Kind die verpassten Schläge ja als Erwachsener problemlos nachholen könnte (entsprechende Etablissements bieten diesen Service in allen größeren Städten an), so ist das Erlebnis des liebevoll-zum-eigenen-Besten-geschlagen-Werdens im Kindesalter nicht im Nachhinein zu erlangen.
Was an dieser Stelle fehlt, ist die breite Unterstützung für diesen religiös-kulturellen Liebesdienst am Kinde. Seit Tagen warte ich nun bereits vergeblich, doch all die Stimmen, die noch vor zwei Jahren lauthals den unbedingten Schutz religiöser Minderheiten und ihrer Traditionen forderten, sie bleiben stumm. Kein Spitzenpolitiker fordert, man müsse „die 12 Stämme auch zu ihren Bedingungen akzeptieren“, kein Religionsfunktionär fragt, ob „die 12 Stämme in Deutschland noch erwünscht sind“.
Keine Solidaritätserklärungen der anderen Glaubensgemeinschaften, keine Debatte, kein Gesetzentwurf, damit „12-Stämmiges Leben auch in Deutschland weiterhin möglich ist“.
Nichts. Nada. Nothing.
Die kleine Gemeinschaft steht alleine im Regen, während das Jugendamt in einem unfassbaren Akt von – zumindest latentem – Antizwölfstammismus willkürlich schaltet und waltet. Denn die „12 Stämme“ haben zwei kleine, aber sehr bedeutsame Probleme:
Zu Einen eine rein zahlenmäßiges: in der theologisch-politischen Lobbymaschinerie sind sie nicht systemrelevant.
Während nämlich die großen Weltreligionen für unsere Volksvertreter viel zu bieten haben, versinken die Splittergruppen im Sumpf der politischen Bedeutungslosigkeit. Die beiden großen christlichen Kirchen versammeln unter ihren Dächern – oder, in der Praxis, zumindest in ihren Karteischränken – noch mehr als die Hälfte der deutschen Wähler, und auch die muslimischen Wählerstimmen sind zahlreich und heiß umworben. Und auch wenn das Judentum in dieser Hinsicht nicht punkten kann, so ist ein gutes Verhältnis zu seinen Vertretern für eine politische Karriere unerlässlich.
Zum Anderen haben sie die Rechnung ohne den galoppierenden Sexismus der 1631d-Befürworter gemacht, der in der Beschneidungsdebatte immer und immer wieder seine hässliche Fratze zeigte und zeigt, und sich mit ihren überkommenen Erziehungsmethoden nicht auf den männlichen Nachwuchs beschränkt. Sonst wäre das womöglich etwas „völlig anderes“ gewesen, das man „überhaupt nicht vergleichen kann“. Denn vom Schutz des weiblichen Nachwuchses, nein, da wollten selbst die beinhärtesten Traditionsversteher dann doch nicht abweichen, weshalb der besagte Paragraph folgerichtig eben nur die Jungen bezüglich ihrer Genitalien entrechtet.
Und so wundert es am Ende dann doch wieder nicht, daß die vollmundigen Forderungen nach Respekt vor uns fremdartig erscheinenden Bräuchen und Traditionen einer gespenstischen Stille weichen, die Frontkämpfer für Multikulti plötzlich nicht mehr gewillt sind, Kinderrechte gegen die Interessen und Überzeugungen Erwachsener aufzuwiegen, und die Presse sich – zur Abwechslung mal ganz sachlich – auf die Tatsachen beschränkt. Man muss es eben erst mal unter die „Top 4“ schaffen, bevor man verlangen kann, daß einem die Rechte von Kindern auf dem Tablett serviert werden.
Eine kleine „Sekte“ mit ihrer ganz eigenen kulturellen Identität – die geht unseren ach so sehr um den Schutz von Religion, Tradition und Minderheiten bemühten Politikern, Klerikern und Redakteuren mit ihren hehren Zielen – allen großmundigen Statements zum Hohn – schlicht am Arsch vorbei.
Noch Fragen ?