Wir schreiben den 3.Oktober 2013, und ein kurzer Blick auf den Kalender offenbart den Grund, warum die meisten von uns heute ausschlafen konnten: es ist der Tag der Deutschen Einheit. Wenn man die Geschichte betrachtet, die jahrzehntelange Trennung Deutschlands in zwei Teile, so sollte man annehmen, daß die Wiedervereinigung einen der wichtigsten Momente in der jüngeren deutschen Geschichte darstellt – und entsprechend gewürdigt wird. Doch in der Realität sieht es in der Regel anders aus. Der Blick auf den Kalender erweckt keinen Jubel, beflügelt nicht die Emotionen, treibt uns nicht auf die Straßen, um dem historischen Ereignis mit Feiern und Ausgelassenheit im Kreise unserer Mitbürger zu gedenken. Man dreht sich noch mal um, zieht die Decke noch mal ein paar Zentimeter hoch und lässt den Tag verstreichen.
Die Deutschen feiern sich nicht. Ein Umstand, der in der Welt um uns herum nicht selten als skurril und verschroben betrachtet wird. Als an einem 3. Oktober Anfang der 90er Jahre eine deutsche Reisegruppe durch den Dallas International Airport wanderte, und eine Schwarz-Rot-Goldene Fahne trug, wurden sie bejubelt. Die Amerikaner freuten sich mit ihnen, hoben die Daumen und sprachen Glückwünsche aus – die Wiedervereinigung eines Landes, das vier Jahrzehnte lang getrennt war, erschien ihnen als ein derart bewegendes Ereignis, daß man es eigentlich gar nicht ausgelassen genug feiern könnte.
Von dieser – aus tiefstem Herzen kommenden – (Mit-)Freude spürt man hierzulande allerdings wenig. Schaut man sich die Kommentare an, die zu Artikeln über den 3. Oktober in den Onlinezeitungen verewigt werden, zeichnet sich ein düsteres Bild. Noch immer trennt man sich fein säuberlich in „Ossis“ und „Wessis“, noch immer wird über Solidaritätszuschlag und Lohndifferenzen gejammert. Zwar mag das Klagen auch seine Berechtigung haben – doch sollte man sich davon den Tag vermiesen lassen, der für eines der bedeutendsten Ereignisse der jüngeren europäischen Geschichte steht? Ich war noch keine 18, als ich im Fernsehen Bilder sah, die mir noch heute eine Gänsehaut bescheren.
Wir Deutschen sind uns nicht mehr grün. Wir haben Angst vor uns selbst, vor unserer Identität. Es scheint schier unmöglich zu sein, den Namen unseres Landes zu nennen oder seine Fahne zu betrachten, ohne die unterschwellige Sorge aufkommen zu spüren, man drifte grade ein Stück weit nach rechts. Nationalstolz, das ist Inbegriff dessen geworden, was die Welt vor 80 Jahren ins Chaos zu stürzen begann. Es vom Heute, vom Jetzt, zu trennen, bleibt uns auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung verwehrt. Zu tief sitzt die Scham, zu tief die Angst daß das, was einmal war, wiederkommen könnte. Wenn wir sagen „Ich bin Deutscher“, so tun wir das mit einem entschuldigenden Unterton, fast, als wäre es uns peinlich. Wir verbringen den 3.Oktober wahlweise damit, Asche auf unsere Häupter zu streuen, oder uns zu grämen, daß die blühenden Landschaften nicht so saftig grün sind, wie wir es uns erträumt hatten.
Auch mir ist heute nicht nach feiern zumute. Nicht, weil ich diesen Tag nicht zu würdigen wüsste, sondern weil es mich betrübt, daß wir die Fähigkeit, uns über das Gute, was das Deutschland des Jahres 2013 zu dem macht, was es ist, zu freuen verloren haben. Wir haben seit 1945 einen langen Weg hinter uns, wir haben in diesen knapp 70 Jahren die Wende von einem totalitären Unrechtsregime zu einem der freiesten Länder der Welt geschafft. Und ich denke, darauf darf man stolz sein – auch als Deutscher.