In Deutschland gibt es eine Regelung, die das Alte vor dem Neuen schützt – der Bestandsschutz. Wir begegnen ihr tagtäglich, meist ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Das Prinzip ist simpel – treten z.B. neue Regelungen für PKW in Kraft, so gelten diese dann in einigen Fällen nicht für bereits zugelassene Autos – denn sonst würden selbst fast neue Fahrzeuge nicht mehr betrieben werden können. Die Paradebeispiele kommen aus der ehemaligen DDR: der Trabant oder die Schwalbe entsprachen bei der Wiedervereinigung nicht den plötzlich geltenden West-Standards, durften (und dürfen) aber unverändert weiterverwendet werden.
Ein ähnliches Prinzip hält jetzt allem Anschein nach auch Einzug in die Politik. Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen forderten Gruppen aus Einzelpersonen und Repräsentanten von Verbänden von der Partei der Grünen einen Bestandsschutz – namentlich für den erneut skandalträchtig gewordenen Volker Beck.
Die peinliche Affäre um seine Verständnispolitik zugunsten Pädophiler aus den 80ern – die er jahrelang durch nachweislich unrichtige Behauptungen, er sei in einschlägigen Pamphleten angeblich falsch zitiert worden zu verklären versuchte – hätte andere Berliner Akteure vermutlich zu Fall gebracht. Der CDU-Mann Christian von Boetticher stolperte über eine Liebesaffäre mit einer 16-Jährigen – obgleich sie sich im legalen Rahmen bewegte und somit auch keinerlei Anstalten machte, etwas an Schutzalterregelungen zugunsten Erwachsener zu verändern. Beck hingegen mauert bei diesem Thema bis heute – und die 15. und letzte Seite seines damaligen Manuskripts bleibt der Öffentlichkeit bis dato verborgen.
Auch sein bigottes Eintreten gegen Kinderrechte und gegen eine konsequente Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention im Zuge der Beschneidungsdebatte schien seine Unterstützer nicht beeindrucken zu können. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: da schwenkt ein offen homosexuell lebender Schwulenrechtler im Bundestag die Bibel – ein Buch, das explizit seinen eigenen Tod fordert (Lev. 20,13) – und stellt eine andere Stelle darin (Gen. 17,10ff) als so unausweichlich dar, daß man dafür die Grundrechte von männlichen Kindern gesetzlich einzuschränken habe. Es ist nicht nachvollziehbar, wie man eine „heilige Schrift“ allen Ernstes gleichzeitig als in einem Falle menschenrechtswidrig UND in einem anderen als über dem Grundgesetz stehend bezeichnen kann, ohne um die eigene Glaubwürdigkeit fürchten zu müssen.
Immerhin blieb er sich zumindest insoweit treu als daß es in beiden Fällen Kinder waren, deren Interessen denen Erwachsener weichen sollten.
Der jüngste Fehltritt, der mutmaßliche Besitz harter Drogen, brachte ihn immerhin dazu, öffentlichkeitswirksam von seinen politischen Funktionen zurückzutreten. Wohlgemerkt nicht von seinem Bundestagsmandat, soviel Konsequenz wäre für Beck dann doch zu viel des Guten gewesen. Und noch während seine Parteifreunde nicht müde wurden zu betonen, man müsse dem armen Mann nun durch diese schwere Zeit helfen und ihn angesichts seines Gesundheitszustandes schonen, erhielten die Fraktionschefs der Grünen einen Brief.
Zahlreiche Freunde, die sich Beck mit seiner nicht selten opportunistischen Linie im Laufe der Jahre gemacht hatte, forderten eine Rückkehr des Politikers in seine Funktionen.
Eine Bitte, der seine Partei umgehend nachkam: bereits am nächsten Tag war er wieder in Amt und Würden – eine Aktion, die selbst bei langjährigen Mitgliedern den Glauben an eine unabhängige Entscheidungsfähigkeit der Grünen Bundestagsfraktion zu zertrümmern vermochte.
Von seiner angeschlagenen Gesundheit war dann auch keine Rede mehr, und auch Beck schien plötzlich wieder voll in seinem moralinsauren Element – ein Religionspolitiker von Lobbys Gnaden wenn man so will. Man kann sich des Staunens nicht erwehren über die hier zu Tage getretene enorme heilende Kraft menschlicher Unterstützung. Psychologen, Entzugskliniken und die gesamte Pharmaindustrie können scheinbar einpacken wenn ein paar Menschen ein Stück Papier verfassen. Ein Schelm, wer in Becks Verbleib im Bundestag, dem Brief und der sofortigen Reaktion der Parteispitze einen Zusammenhang vermuten will.
Doch die Sorge um Becks politische Zukunft scheint damit aber noch lange nicht verblasst zu sein. Für die nächste Bundestagswahl stehen in seinem Kreisverband wohl noch zwei weitere Kandidaten in den Startlöchern – Katharina Dröge und Sven Lehmann. Daß der Kölner Kreisverband gleich drei Kandidaten auf aussichtsreiche Listenplätze zu bringen vermag gilt zumindest als fraglich. Und wohl um hier kein Risiko einzugehen, appellierten zahlreiche mehr oder minder prominente Unterzeichner in einem weiteren Schreiben nicht nur an Beck, 2017 erneut zu kandidieren, sondern auch gleich an seine Partei, seinen Einzug auch sicherzustellen. Eine ganz neue Form des Lobbyismus – man bringt sich seinen gewogenen Wunschpolitiker kurzerhand selber mit, ganz öffentlich und nach den entlarvenden Erfahrungen mit der Grünen Bundestagsfraktion Ende April wohl auch mit hoher Aussicht auf Erfolg, abseits von Basisdemokratie und Debattenkultur.
Beachtlich hierbei ist vor allem die Begründung: Beck stehe „für die absolute Einhaltung der Menschenrechte in allen Politikbereichen“, was zumindest in Bezug auf Kinderrechte (und soweit ich informiert bin zählen Kinder bei uns durchaus als Menschen) hier bestenfalls als misslungener Witz anmutet. Auch „dialogorientiert“ soll er sein, was zumindest diejenigen zu bestreiten wagen werden deren kritische Kommentare auf seiner Facebookseite gelöscht wurden. Außer dieser an Personenkult grenzenden Verherrlichung der Personalie Beck kommt indes wenig: „Nur zu gerne würden AfD und Co. Volker Beck zum Verstummen bringen. Seine Stimme wird umso mehr gebraucht.“
Es ist schon ein Armutszeugnis, wenn man als Politiker praktisch nur noch durch die AfD im Amt gehalten wird, indem so getan wird, als gäbe es sonst keinerlei nennenswerten Widerstand mehr gegen rechtspopulistische Parteien.
Unterm Strich zeichnen beide Briefe ein ernüchterndes Bild: ein politisch nach sonst gängigen Maßstäben seit langer Zeit untragbarer Politiker hängt vollends am Einfluss-Tropf seiner Freunde, eine Partei lässt sich wahlweise entweder unter Druck setzten oder hat selbst angesichts der Skandale um Beck nichts Besseres mehr in petto, und ein Kreisverband befindet sich nicht nur unter dem Druck der Forderungen, sondern auch in der unangenehmen Lage, einen ihrer Kandidaten nicht mehr aufstellen zu können ohne sich dem Vorwurf stellen zu müssen, dies nur auf äußeren Druck hin getan zu haben.
Einen Gefallen haben die Verfasser und Unterstützer dieser Briefe damit am Ende niemandem getan – weder Beck, noch den Grünen, noch dem Ansehen der Politik insgesamt.
Volker Beck ist ein Trabbi: ein Relikt, das moderne Anforderungen nicht zu erfüllen vermag, mit dem man angenehme wie unangenehme Erinnerungen verbindet, das man zu hohen Festen und Feiertagen mal heraus holt und ansonsten irgendwo einmottet, weil es keine Abwrackprämien gibt – denn für den täglichen Einsatz in der heutigen Zeit ist er nicht mehr geeignet. Ein Bestandsschutz ist hier fehl am Platz.